ARE YOU LONESOME TONIGHT

Wen Shipei, CN, 2021
95 min., OmdU
"Dass im Jahr des 100. Jahrestag der Kommunistischen Partei ein Film daherkommt, der in dreckigen, grobkörnigen Aufnahmen das Bild eines Landes zeichnet, in dem ein ebenso überfordertes wie unmenschliches Rechtssystem herrscht und ganze Landstriche völlig verarmt sind… Tja, dann ist das zwar nicht einzigartig, hat allerdings Seltenheitswert – noch dazu im großen Jubiläumsjahr zwischen zahlreichen Hurrastimmung-Spektakelfilmen, Das allein ist Grund genug, den Filmschaffenden eine ordentliche Schippe Respekt zu zollen." (Sidney Schering)

Hongkong Ende der 1990er Jahre: Der junge Installateur Xueming (Eddie Peng) ist gerade unterwegs zu einem Kinobesuch mit seiner Freundin (Jiang Peiyao). Als er für einen kurzen Moment abgelenkt wird und einen Mann überfährt, gerät sein Leben aus den Fugen. Gepeinigt von Gewissensbissen sucht er die Nähe der Witwe des Verstorbenen, dringt unter dem Vorwand, ihre Klimaanlage reparieren zu wollen, in ihr Leben vor. Doch dabei erfährt er mehr über diese und ihren Mann, als ihm lieb sein kann. Denn zum einen hat diese bereits ihren Sohn auf tragische Weise verloren und ist nun doppelt traumatisiert. Und zum zweiten findet Xueming heraus, dass der Verstorbene nicht gerade ein Engel war und sich offensichtlich mit den falschen Leuten eingelassen hatte, denen er eine große Summe Geld schuldete.
Zudem ist da noch ein Polizist (Yanhui Wang), der im Fall des rätselhaften toten mit Nachforschungen beginnt — und immer wieder kreuzen sich die Wege des Ermittlers und des jungen Mannes, der versucht, seine Schuld auf irgendeine Weise zu begleichen.

Immer wieder sind es Zufälle oder — wenn man so will — schicksalshafte Wendungen, die Wen Shipeis überwiegend gelungenen Mix aus Drama und Thriller befeuern — ein gerissener Strick, eine defekte Klimaanlage, eine zufällige Begegnung, bei der der (vemeintlich) Schuldige die Witwe seines Opfers erkennt. Xueming aber glaubt nicht an einen Zufall, sondern begreift dies als Chance oder viel eher noch als Verpflichtung, sich mit seiner Tat auseinanderzusetzen und für diese zu sühnen.

Wie der Protagonist selbst, so schwankt und wechselt auch der Film selbst in seinen Stimmungsbildern und -lagen, ist mal ruhig und fast meditativ, dann wieder von expressiver wie explosiver Härte und berstender Wut. Wenn etwa Xueming sich einfach in eine Massenschlägerei einmischt und dabei ordentlich verprügelt wird, dann ist das nicht nur ein deutlicher Hinweis auf seinen desolaten Zustand und seine unterdrückte Wut, sondern auch nach dem Wunsch, sich zu spüren und die Schmerzen als eine Art Buße auf sich zu nehmen.

Are You Lonesome Tonight ist nach zwei Kurzfilmen in den Jahren 2015 und 2016 das Regiedebüt des chinesischen Regisseurs Wen Shipei, der in einem Statement zum Film bekennt, für seine Figuren durchaus die eigene Familie vor Augen gehabt zu haben. Sein eigener Vater war, so ist es im Pressseheft zum Film zu lesen, ein Kleinkrimineller, der in den 1990er Jahren Autos schmuggelte und der sich immer wieder (wie das Unfallopfer) auf der Flucht vor Inkasso-Eintreibern befand. Und eine weitere Episode, die dort ebenfalls zu lesen ist, erinnert deutlich an Mrs. Liang und deren Umgang mit den kriminellen Bekannten ihres Mannes.

Die nächtliche Düsternis, die schweren Themen von Schuld, Trauer, Verlust und Sühne, dazu ein Figurenensemble, in dem fast jede/r Geheimnisse hat sich sich wehrlos dem Hereinbrechen des Schicksals ausgesetzt sieht, dazu ein (etwas zu) verzwickter Plot, der wild zwischen den verschiedenen Zeitebenen hin- und herspringt sowie verschiedene Rückblenden, die Schritt für Schritt die wahren Hintergründe der Ereignisse und deren fatale Missverständlichkeiten enthüllen — all das entstammt geradezu lehrbuchhaft aus dem Repertoire alter und neuerer Noir-Filme.

In kühlen, teils delirierenden Bildern voller expressiver nachtneondunkler Farbigkeit, dem permanenten Gefühl einer unausweichlichen Melancholie und einer sehenswerten Mixtur aus Drama und reinrassigem Thriller erzählt Wen Shipei von individueller Schuld und der Suche nach Vergebung, von Verstrickungen und den Versuchen, sich daraus zu befreien. Ein Neo-Noir-Thrillerdrama, das auf sehenswerte und ein wenig verwirrende Weise flirrt und oszilliert und dem man auch ein etwas holprig geratenes Finale gern verzeiht.